Bindung und Verbindung Teil 2

Bindung und Verbindung: Welche Rolle spielen deine «kindlichen» Bindungsbedürfnisse im Erwachsenenalter noch?

Nachdem im ersten Blog-Artikel der Serie Bindung & Verbindung eine Einführung in das Thema der Bindung im Kindesalter erfolgte, wird im vorliegenden Beitrag die Bindung im Erwachsenenalter eingeführt. Die Bindungstheorie für Erwachsene ist eine Erweiterung der Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth. Sie zielt darauf ab, individuelle Unterschiede in Kognitionen, Gefühlen und Verhaltensweisen zu erklären, welche im Kontext enger Beziehungen von Jugendlichen und Erwachsenen auftreten. Nach dieser Theorie ergeben sich individuelle Unterschiede im „Bindungsstil“ aus den Erfahrungen in früheren engen Beziehungen, angefangen bei den Bindungsbeziehungen zwischen Kindern und ihren primären Bezugspersonen – zumeist den Eltern. Hazan und Shaver [1] haben 1987 hierzu das neue Forschungsfeld «Paarbeziehung und Bindung» eröffnet. Auch wenn Paarbeziehungen im Erwachsenenalter natürlich nicht identisch mit der Mutter/Vater-Kind-Beziehung sind, so spielen auch dort die primären Bedürfnisse nach Autonomie und Intimität sowie die Angst vor Verlust, Trennung oder Ablehnung des Partners eine bedeutsame Rolle. Während in der Kindheit die Eltern die wichtigste Quelle des Erlebens von Sicherheit und emotionaler Nähe sind, werden Bindungsbedürfnisse im Erwachsenenalter vorwiegend an den Partner herangetragen [2].

"Andauernde Liebesbeziehungen sind die vermutlich wichtigsten Bindungsbeziehungen im Leben eines Erwachsenen…"

Auch wenn Paarbeziehungen im Erwachsenenalter natürlich nicht identisch mit der Mutter/Vater-Kind-Beziehung sind, so spielen auch dort die primären Bedürfnisse nach Autonomie und Intimität sowie die Angst vor Verlust, Trennung oder Ablehnung des Partners eine bedeutsame Rolle. Während in der Kindheit die Eltern die wichtigste Quelle des Erlebens von Sicherheit und emotionaler Nähe sind, werden Bindungsbedürfnisse im Erwachsenenalter vorwiegend an den Partner herangetragen [2]. 

«Andauernde Liebesbeziehungen sind die vermutlich wichtigsten Bindungsbeziehungen im Leben eines Erwachsenen… und können sogar eine therapeutische Rolle in der Vorbeugung von Effekten, welche auf eine schwierige frühe Bindung zurückzuführen sind, einnehmen.» (Kim Bartholomew, 1990, [3]).

Seit 1987, als die Theorie zum ersten Mal vorgestellt wurde, haben zahlreiche Studien [4] gezeigt, dass Messungen des Bindungsstils in theoretisch vorhersehbarer Weise a) mit psychischen Prozessen im Zusammenhang mit engen Beziehungen, b) mit in solchen Beziehungen beobachteten Verhaltensweisen und c) mit den Ergebnissen solcher Beziehungen, sowohl subjektiv (z. B. Zufriedenheit) als auch objektiv (z. B. Trennung, Scheidung oder Länge der Beziehung), verbunden sind. Die jeweilige Bindungscharakteristik ist somit entscheidend für die Qualität einer romantischen Paarbeziehung. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass der Bindungsstil in der frühen Kindheit nur mässig mit dem Bindungsstil im Erwachsenenalter korreliert – also wenig «stabil»  und somit zeitüberdauernd ist, aber:

«Auf einem intrapsychischen Level gilt, je tiefer die Beziehung und je stärker die erweckten Emotionen – je wahrscheinlicher, dass die früheren und weniger bewussten Modelle dominant werden.» (Kim Bartholomew, 1990, [3]).

Ein Mensch macht im Laufe seines Lebens natürlich vielfältige Bindungserfahrungen mit anderen Kindern, Freunden oder später mit Arbeitskollegen und in romantischen Beziehungen. Diese Erfahrungen können, die von Bowlby beschrieben «internen Arbeitsmodelle» – also das Selbst- und Fremdbild – beeinflussen und durch so erworbene, korrigierende Erfahrungen auch die Beziehungserwartungen und somit die Bindungscharakteristik verändern. Die Bindungsstile im Erwachsenenalter können nach dem Grad der Aktivierung des Bindungssystems unterschieden werden: In sicheren Bindungen findet sich eine angemessene Aktivierung des Bindungssystems, während ängstlich-ambivalente Bindungen durch eine Überaktivierung (hohes Intimitätsbedürfnis und ausgeprägte Ängstlichkeit) und vermeidende Bindungen durch eine Unteraktivierung (geringes Intimitätsbedürfnis) des Bindungssystems gekennzeichnet sind [4]. Auch die Bindungsstile im Erwachsenenalter werden zuweilen in drei, jedoch überwiegend in vier Stilen beschrieben. Das von Bartholomew entwickelte Modell [3] beschreibt die Bindungscharakteristik entlang der Dimensionen «Angst vor Verlust/Trennung» und «Vermeidung von Intimität», welche jeweils gering oder stark ausgeprägt sein können. Daraus lassen sich vier Kombinationen ableiten, welche als die vier gängigen Bindungsstile bekannt sind: Sicher, abweisend-vermeidend, verstrickt, und ängstlich-vermeidend.

"... je tiefer die Beziehung und je stärker die erweckten Emotionen – je wahrscheinlicher, dass die früheren und weniger bewussten Modelle dominant werden."

Die erste Dimension «Bindungsvermeidung» ist im Allgemeinen gekennzeichnet durch ein Unbehagen in Situationen von emotionaler Nähe zum Partner, was zur Folge hat, dass Nähe weitgehend vermieden wird. Entweder weil das Intimitätsbedürfnis wahrgenommen jedoch bewusst unterdrückt/verdrängt (ängstlich-vermeidend) oder überhaupt nicht wahrgenommen (abweisend-vermeidend) wird.

Die zweite Dimension «Bindungsangst» kennzeichnet sich durch eine grosse Angst verlassen oder zurückgewiesen zu werden, gepaart mit einem ausgeprägten Bedürfnis nach Bestätigung sowie einem geringen Selbstvertrauen.

Vierfeldertafel für die Bindungsstile auf den Dimensionen Angst und Vermeidung.

Nachfolgend werden die einzelnen Bindungsstile als «Charaktere» näher vorgestellt, sodass deren Eigenheiten nicht nur abstrakt, sondern menschlich und erfahrungsbasiert begreifbar werden.

Sicher

«Hallo, meine Bindungscharakteristik wird als sicher gebunden bezeichnet, weil ich ein hohes Bedürfnis nach Intimität und wenig Angst vor Ablehnung oder Zurückweisung empfinde. Ich bin vertraut mit Intimität, sorge mich wenig über Ablehnung und grüble selten über meine Beziehungen nach. Es fällt mir leicht, anderen nahe zu kommen und ich fühle mich wohl, wenn ich von ihnen abhängig bin und wenn sie von mir abhängig sind. Ich mache mir keine Sorgen, verlassen zu werden oder dass mir jemand zu nahekommen könnte. Für gewöhnlich findest du mich eher in längerfristigen und zufriedenstellenden Beziehungen.»

"Als Mann wird meine Bindungscharakteristik auf Grund der gesellschaftlichen Normen und Stereotype eher akzeptiert oder sogar erwartet als von einer Frau."

Abweisend-Vermeidend

«Hallo, mein Bindungsstil wird als vermeidend gebunden beschrieben, weil ich ein eher geringes Bedürfnis nach Intimität verspüre bzw. Intimität vermeide. Vor Ablehnung oder Zurückweisung habe ich wenig Angst, aber bei zu viel Nähe fühle ich mich schnell unbehaglich – es wird mir schnell zu eng. Ich schätze vor allem Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung. Über die Verfügbarkeit meines Partners mache ich mir keine oder wenig Sorgen. Ich fühle mich eher unwohl in der Nähe von anderen und es fällt mir schwer, anderen zu vertrauen und von ihnen abhängig zu sein. Ich ziehe es auch vor, dass andere nicht von mir abhängig sind. Es ist mir sehr wichtig, dass ich mich unabhängig und selbständig fühle. Mein Partner möchte für gewöhnlich, dass ich intimer bin, als es mir angenehm ist. Meine Intimitätsbedürfnisse verdränge ich oder spiele sie herunter und habe unbewusste Strategien entwickelt, intime Beziehungen passiv zu vermeiden – weswegen du mich eher selten in Beziehungen findest. Meine Bedürfnisse nach Intimität und Nähe in Beziehungen spiele ich herunter, weil ich befürchte, dass die von mir angestrebte Autonomie und Unabhängigkeit beeinträchtigt werden könnte. Ich lege großen Wert auf Unabhängigkeit und bin zuweilen voreingenommen von Leistung und Erfolg. Meinen Fokus lege ich eher auf unpersönliche oder sachliche Aspekte und Themen wie meine Arbeit oder Hobbies. Mein Selbstvertrauen generiere ich aus dem Inneren und benötige keine bis wenig äußere Bestätigung oder Akzeptanz. Als Mann wird meine Bindungscharakteristik auf Grund der gesellschaftlichen Normen und Stereotype eher akzeptiert oder sogar erwartet, als von einer Frau.»

"Ich verspüre großes Unbehagen in intimen Situationen und mache mir große Sorgen um das Engagement, Verfügbarkeit und die Liebe meines Partners."

Ängstlich-Vermeidend

Hallo, meine Bindungscharakteristik wird als ängstlich-vermeidend gebunden beschrieben, weil ich zwar ein eher grosses Bedürfnis nach Intimität verspüre, meine große Angst vor Ablehnung und Zurückweisung jedoch für die Wahrung von Distanz und die Vermeidung von Intimität sorgt. Ich verspüre großes Unbehagen in intimen Situationen und mache mir große Sorgen um das Engagement, Verfügbarkeit und die Liebe meines Partners. Ich fühle mich unwohl, wenn ich anderen nahekomme, auch wenn mir mein Bedürfnis nach Intimität durchaus bewusst ist. Ich finde es schwierig, anderen zu vertrauen oder von ihnen abhängig zu sein und mache mir Sorgen, dass ich verletzt werden könnte, wenn ich meinem Partner nahekomme. Ich fühle mich in Beziehungen eher abhängig und mein Selbstvertrauen ist eher gering und von äußerer Bestätigung abhängig.»

Verstrickt

«Hallo, meine Bindungscharakteristik wird als verstrickt gebunden bezeichnet, weil ich eine geringe Vermeidung von Intimität zeige und eine große Angst vor Ablehnung oder Zurückweisung empfinde. Mein Verlangen nach Nähe und Intimität ist mitunter sehr groß. Ich möchte anderen emotional extrem nahe sein oder sogar mit ihnen «verschmelzen», aber andere zögern mir so nahe zu kommen, wie ich es mir wünsche. Mein übermäßiges Bedürfnis nach Nähe schreckt Menschen mitunter sogar ab. In Beziehungen bin ich für gewöhnlich sehr unsicher und mache mir oft Sorgen, dass mein Partner mich nicht liebt, schätzt oder mich sogar verlassen könnte. Ich verspüre ein unstillbares Bedürfnis nach Bestätigung und mein Selbstvertrauen hängt in extremer Weise von äußerer Bestätigung ab. Als Frau wird meine Bindungscharakteristik auf Grund der gesellschaftlichen Normen und Stereotype eher akzeptiert oder sogar erwartet als von einem Mann.»

"Die Ausprägungen auf den Dimensionen Angst und Vermeidung sind fließend und individuell, sie können über die Lebenszeit und auch zwischen unterschiedlichen Beziehungen variieren."

Diese Beschreibungen dienen als prototypische Stereotype zum besseren Verständnis der unterschiedlichen Bindungsdynamiken, welche man bei sich selber oder anderen – insbesondere in romantischen Beziehungen beobachten kann. Sicher konnte der eine oder andere sich selbst, einen Freund oder den eigenen Partner in einer der Beschreibungen – zumindest tendenziell – wiederfinden. Die Einteilung der Bindungsstile in Kategorien erleichtert die Beschreibung und das Verständnis über die Zusammenhänge der beiden Bindungsdimensionen Vermeidung und Angst. Die Bindungskategorien beziehen sich auf die Bindungsausprägung und nicht auf Menschen! In der Realität existieren diese Kategorien in der Form natürlich nicht. Die Ausprägungen auf den Dimensionen Angst und Vermeidung sind fließend und individuell, sie können über die Lebenszeit und auch zwischen unterschiedlichen Beziehungen variieren.

Im nächsten Artikel wird die immense Bedeutung und der Einfluss der Bindungscharakteristik auf eine romantische Liebesbeziehung erläutert.

Das Team bei Conscious:Love ist selbstverständlich bemüht und motiviert, sich für eine  bindungsförderliche und beziehungsfreundliche Lebensmitwelt einzusetzen. Bewusste Menschen machen sich ihr persönliches Bindungsschema bewusst und arbeiten an ihren emotionalen und mitunter schmerzhaften Themen, die damit sowohl im Kindes- als auch Erwachsenenalter verbunden sind.

Zur Wichtigkeit von frühkindlicher Bindung sei auch auf den ersten Blog-Artikel der Reihe «Bindung & Verbindung» mit dem Titel «Was haben Papa und Mama mit deinem Ausdruck von (Ver)Bindung mit anderen Menschen zu tun?» verwiesen.

[1] Hazan, C., & Shaver, P. (2017). Romantic love conceptualized as an attachment process. In Interpersonal Development (pp. 283-296). Routledge.

[2] Neumann, E., Rohmann, E., & Bierhoff, H. W. (2007). Entwicklung und Validierung von Skalen zur Erfassung von Vermeidung und Angst in Partnerschaften. Diagnostica53(1), 33-47. https://doi.org/10.1026/0012-1924.53.1.33

[3] Bartholomew, K. (1990). Avoidance of intimacy: An attachment perspective. Journal of Social and Personal relationships, 7(2), 147-178. https://doi.org/10.1177/0265407590072001

[4] Shaver, P. R. & Mikulincer, M. (2002). Attachment related psychodynamics. Attachment and Human Development, 4, 133–161. https://doi.org/10.1080/14616730210154171